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Gemeindebau und wilde Siedler
Die Entwicklung des Wohnens nach dem Ende des Ersten Weltkrieges.
Markus Stradner, Pressesprecher von Wiener Wohnen, fasst eine der wesentlichen Entwicklungen des österreichischen Wohnrechtes zusammen: „Fast 75 Prozent der rund 550.000 Wiener Wohnungen um 1917 sind überbelegte Ein- und Zweizimmerwohnungen. Besonders in den Kriegsjahren sind die Frauen und Kinder der eingerückten Soldaten mit Delogierungen konfrontiert. Um das soziale Klima zu entspannen, erlässt die konservative Regierung 1917 eine Mieterschutzverordnung, die einen Mietzinsstopp (,Friedenszins‘) und den Schutz vor willkürlichen Kündigungen beinhaltet.“ Vor dem Krieg sind Mietverhältnisse ein weitgehend ungeregelter Raum, rechtliche Grundlage ist das ABGB, das nur dürftige Mietbestimmungen enthält, bestätigt auch Nadja Shah, Geschäftsführerin der Mietervereinigung Österreichs. „Der Friedenszins war zum einen eine Maßnahme der Kriegspolitik – Soldaten an der Front sollten sich keine Sorgen machen müssen, dass ihre Familien delogiert werden. Auf der anderen Seite war es nach dem Krieg auch eine Möglichkeit, Ordnung in das Chaos zu bringen und Sicherheit zu schaffen.“
Es ist eine Zeit des Umsturzes, die großen Monarchien Europas kämpfen um ihre Existenz und verlieren: Ein vier Jahre währender Krieg hat die Gesellschaft ausgeblutet, eine überlastete, wütende Bevölkerung beginnt sich aufzulehnen. Die russische Februarrevolution beendet die Zarenherrschaft, noch im selben Jahr übernehmen in der Oktoberrevolution die Bolschewiki die Macht. Im Jänner 1918 kommt es in Deutschland und Österreich zu Massenstreiks, die Novemberrevolution in
##Deutschland markiert den Beginn der Weimarer Republik.
Nach dem Zerfall der mächtigen k.u.k. Monarchie herrscht im nunmehr winzigen Österreich eine Stimmung, die Nadja Shah als „nationale Existenzangst“ beschreibt. „In einer solchen Situation ist es das oberste Ziel, die soziale Ordnung wiederherzustellen, und dazu gehört auch, die Wohnverhältnisse zu sichern.“ Diese Sicherung gilt allerdings nicht für alle Teile der Bevölkerung, ergänzt Markus Stradner: „Dies hat jedoch eher den Effekt, dass aufgrund der nunmehr niedrigen Mietzinse Untermieter kaum mehr aufgenommen werden. Die durchschnittliche Belagsdichte pro Wohnung sinkt und gerade für die einkommensschwächsten Schichten wird es noch schwieriger, eine Wohnunterkunft zu finden.“ Die bis 1922 andauernde Hyperinflation bewirke zudem, dass die nun durch den Mieterschutz festgeschriebenen Mieten ihren realen Wert weitgehend einbüßten. So kommt trotz Wohnungsmangels die private Bautätigkeit zum Erliegen.
##Selbst ist das Wohnen
In dieser Situation werden die Menschen schließlich selbst aktiv: Aus der Wohnungsnot entwickelt sich nach 1918 die „wilde“ Siedlerbewegung. „Rund 90.000 Wiener sind obdachlos. Unbebaute Grundstücke werden in Anspruch genommen, um darauf behelfsmäßige Wohnunterkünfte zu errichten“, erklärt Stradner. Schon während des Krieges siedeln sich Menschen etwa im Wienerwald an. Im September 1920 besetzen einige hundert obdachlose Kriegsgeschädigte ein Gebiet im Lainzer Tiergarten, das bereits 1913 gerodet wurde. Ursprünglich sollte hier ein Villenviertel entstehen. Schließlich ist es die Friedensstadt im heutigen 14. Bezirk, für die im September 1921 die Bewilligung an die „Siedlungsgenossenschaft der Kriegsbeschädigten“ ergeht. Und die Bewegung hat hochkarätige Unterstützung – die Häuser in der Hermesstraße 85 bis 99 werden nach Typenplänen von Adolf Loos errichtet, der der Genossenschaft seine Dienste anträgt. Ein ebenfalls von Loos stammender Bebauungsplan für die übrige Siedlung wird nicht verwirklicht. Die „Selbsthilfebewegung“ agiert am Anfang noch illegal, findet aber relativ schnell Unterstützung vonseiten der Stadtverwaltung, die gemeinsam mit dem „Verband für Siedlungs- und Kleingartenwesen“ 1921 die „Gemeinwirtschaftliche Siedlungs- und Baustoffanstalt“ (Gesiba) gründet. Aufgabe der Gesiba war es, die Genossenschaften durch Baustoffversorgung zu unterstützen. Die errichteten Häuser verfügen zumeist über kleine Gärten, die zur Nahrungsmittelversorgung genutzt werden. Insgesamt entstehen in den Nachkriegsjahren 50 Siedlungen und rund 15.000 Wohneinheiten. [cite1]
Neben der Siedlerbewegung entsteht in den frühen zwanziger Jahren ein Phänomen, das Wien wie kein zweites charakterisiert: der Gemeindebau. Bereits zuvor hatte es ähnliche Projekte gegeben, die als historische Vorläufer des Gemeindebaus gelten können: Ende des 19. Jahrhunderts wurden Wohnhäuser von der Kaiser-Franz-Josef-I.-Jubiläums-Stiftung für Volkswohnungen und Wohlfahrtseinrichtungen gebaut. Bei den so errichteten „Jubiläumshäusern“ waren schon die ersten Merkmale des Roten Wien zu bemerken, wie zum Beispiel die Randverbauung mit niedriger Verbauungsdichte, nutzbare Innenhöfe, Grün und Spielanlagen und soziale Einrichtungen (Ärztezimmer, Dampfwäscherei, Bücherei und Badeanstalten). Zur Linderung der Wohnungsnot entstehen um 1910 auch erste Ansätze eines Arbeiterwohnbaus in Form von Werkswohnungen, wie sie von der Floridsdorfer Lokomotivfabrik oder der Firma Brevillier & Urban errichtet werden oder vonseiten karitativer Stiftungen und Vereine. Einige Kommunalbetriebe wie die Straßenbahndirektion errichten Werkswohnungen für ihre Beschäftigten. [cite3] Doch auch diesen Maßnahmen bereitet der Krieg ein Ende. Durch die fehlende Bautätigkeit von privater Seite springt nun die Stadt Wien ein, um diesen Ausfall zu kompensieren. Eine Maßnahme, die politisch auch erst durch den Wechsel von Monarchie zu Demokratie nicht nur möglich, sondern geradezu zwingend wird – immerhin stellt die Arbeiterschaft nun einen beträchtlichen Teil der Wähler. Am 4.5.1919 findet die erste Wiener Gemeinderatswahl statt, die die Sozialdemokratische Arbeiterpartei mit 54 Prozent gewinnt. Dieser Wahlsieg bringt ihr die notwendige Stärke, um ihr kommunalpolitisches Programm umzusetzen. „Die Stadtregierung erließ Gesetze, denen zufolge Doppelwohnungen und nicht genützte oder ungehörig genützte Wohnungen für Obdachlose oder sozial Schwache zur Verfügung gestellt werden mussten“, erklärt Stradner und Nadja Shah ergänzt: „Die Stadtverwaltung war ebenso bankrott wie die meisten, daher galt es, zunächst Geld für den Wohnbau aufzutreiben.“ Das wird möglich durch die Abtrennung Wiens von Niederösterreich 1922, die der Stadt Steuerhoheit ermöglicht. Der von Bürgermeister Jakob Reumann berufene Finanzstadtrat Hugo Breitner setzt eine Reihe von Maßnahmen, die Geld für den kommunalen Wohnbau bringen sollen: Dazu gehört eine Wohnbausteuer, die von allen Besitzern vermietbarer Räume zu entrichten ist. Diese ist so gestaffelt, dass die teuersten 0,5 Prozent der Objekte 44,5 Prozent der Gesamtsteuerleistung erbringen. Außerdem werden Luxussteuern auf Güter wie Autos, Rennpferde, Zweitwohnungen, feine Hotels, Restaurants und diverse andere Etablissements eingeführt, die für den Wohnbau genutzt werden.
##Wir leben im Gemeindebau
Als erster Gemeindebau wird der Metzleinstaler Hof fertiggestellt – begonnen als Mietshaus noch während des Krieges 1916. „Aus Geldmangel bleibt das geplante Bauvorhaben unvollendet“, erklärt dazu Stradner. „Im Jahre 1918 betraut die Stadt Wien den Architekten Hubert Gessner mit der Fertigstellung des ersten Bauteiles mit 103 Wohnungen, der bis 1920 fertiggestellt wird. Der Metzleinstaler Hof nimmt innerhalb der Gemeindebauten der Ersten Republik eine besondere Stellung ein und gilt als Beispiel für den Übergang der Bautradition vom kommerziellen zum sozialen Wohnungsbau mit komfortablen, hellen Wohnungen und Gemeinschaftseinrichtungen wie Badeanstalt, Wäscherei, Bibliothek, Lehrlingswerkstatt und Kindergarten.“ [cite2]
Bei ihrer Entstehung stellt diese neue Wohnform einen großen Fortschritt dar. Wegen schlechter Lichtverhältnisse in den Wohnungen hatte die Zahl der rachitischen Kinder vor und im Krieg zugenommen. Gemeindewohnungen sind deutlich heller gestaltet, viele verfügen über Balkone, alle über Wasser und Strom. Der klassische Gemeindebau ist in Blockrandbauweise ausgeführt, in der Mitte befinden sich Freiflächen. Verbaut sind nur etwa 30 Prozent der Gesamtfläche.
Insgesamt entstehen im „Roten Wien“ der Ersten Republik mehr als 61.000 Wohnungen in 348 Wohnhausanlagen und über 5.000 Wohnungen in 42 Reihenhaussiedlungen. Bis heute wird etwa der Margaretengürtel als „Ringstraße des Proletariats“ bezeichnet. Der letzte Gemeindebau wird 2004 errichtet, danach gibt es keine Pläne für Neuerrichtungen mehr. Markus Stradner erklärt, warum: „Die Stadt Wien errichtet keine Gemeindebauten mehr, da diese nicht günstiger errichtet werden können als geförderte Wohnungen.“
Im Gegenteil: Durch die Bestimmungen des Bundesvergabegesetzes – insbesondere durch das Nachverhandlungsverbot – lägen die Baukosten rund 20 Prozent über jenen von Bauträgern, die nicht an Vergaberichtlinien gebunden seien, so Stradner. Bauträger hätten nach einem Ausschreibungsverfahren die Möglichkeit der Nachverhandlung. Gemeindewohnungen könnten also nicht zu günstigeren Konditionen errichtet und damit auch nicht zu günstigeren Mieten als andere geförderte Wohnungen angeboten werden. „Mit demselben Fördermitteleinsatz können infolgedessen mehr Wohnungen errichtet werden, als diese beim Bau von neuen Gemeindebauten möglich wäre“, sagt Stradner. «
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AutorBarbara Wallner
Tags
Wohnen
Markt
Gemeindebau
Geschichte
Erster Weltkrieg
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