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WAHN- STATT WOHNSINN

In der deutschen Hauptstadt spitzt sich die Wohnsituation zu: Anfang April gehen in Berlin zehntausende verärgerte Bürger auf die Straße, sie fordern die Enteignung privater Wohngesellschaften. Einig ist man sich nur im Protest; Lösungen hat man keine parat. Ein Aprilsamstag wie im Bilderbuch: Sonnige 22 Grad, ein strahlend blauer Himmel über Berlin. Die Atmosphäre ist ausgelassen - und aufgeladen. Berlin feiert nicht etwa Frühling; das Volk macht wieder einmal seinem Unmut über die rasant steigenden Mietpreise Luft. Neben dem Frust wird auch die Kernforderung des Berliner Bündnisses "Deutsche Wohnen & Co enteignen" auf Transparenten und Plakaten eingefordert. Allein Deutsche Wohnen besitzt in Berlin und Umgebung 115.000 Wohnungen und landet wegen Mieterhöhungen und dem Umgang mit seinen Mietern regelmäßig in den Schlagzeilen. Die Deutsche Wohnen ist "nicht das schlimmste Unternehmen, aber es ist das größte unter den schlimmsten", sagt der Sprecher der Enteignungsinitiative, Rouzbeh Taheri. Das Motto "Gemeinsam gegen Verdrängung und Mietenwahnsinn" hat an diesem Wochenende rund 40.000 Menschen auf die Straße gehen lassen. Zehntausende ziehen vom Alexanderplatz durch die Karl-Marx-Allee nach Friedrichshain und Kreuzberg bis zur Arena Berlin in Treptow, wo zeitgleich die Berliner Immobilienmesse stattfindet. "Herz statt Profit" steht auf einem der Plakate der Demo-Veranstalter. In der Arena referiert man währenddessen über "Finanzierungswege zur Wunschimmobilie". Das Interesse hält sich in Grenzen. Die großen Geschäfte werden in der Eventhalle direkt am Spreeufer sicher nicht gemacht, Entscheidungsträger sieht man kaum. ##Kein Vertrauen in die Stadtregierung In Kreuzberg, wo sich die Mietpreise seit 2014 zum Teil um 70 Prozent erhöht haben, hält ein Demonstrant einen Pappkarton in die Höhe: "Seid froh, dass ihr nur enteignet werdet." Ist die Enteignung eine unrealistische Drohung? Binnen sechs Monaten müssen 20.000 Unterstützer unterschreiben, damit das Volksbegehren eingeleitet wird. An diesem Samstag stehen Demonstranten Schlange, um für die Initiative zu unterzeichnen. Nimmt das Volksbegehren auch die zweite Stufe, bei der rund 175.000 Unterschriften gesammelt werden müssen, kommt es zum Volksentscheid. Zur Abstimmung steht dann der Vorschlag, alle Immobilienkonzerne, die mehr als 3.000 Wohnungen in Berlin besitzen, als Anstalt öffentlichen Rechts in Landesbesitz zu überführen. Eine Antwort auf die Wohnungsmisere ist das keine. Denn Berlin hat sich als Bauherr in den vergangenen Jahren keinen Lorbeerkranz verdient. Außerdem hat das letzte Wort immer noch der Senat, und der könnte wie beim Volksentscheid über den Weiterbetrieb des Flughafens ablehnen. Stadt und Bürger driften immer weiter auseinander. Politik und Wirtschaft sind sich auch nicht grün: Baurechtler Bernhard Haaß, der den Arbeitskreis Bauleitplanung bei der IHK (Industrie- und Handelskammer) leitet, bescheinigt der Senatsverwaltung unter Katrin Lompscher "komplettes Versagen in der Stadtentwicklung". ##Enteignung: gesetzeswidrig Für Außenstehende ist es eine typische Berliner Posse. Alle Mitspieler ziehen ein Gutachten nach dem anderen hervor. "Sowohl das Grundgesetz als auch die Berliner Landesverfassung stehen einer möglichen Vergesellschaftung von Immobilien privater Wohnungsunternehmen entgegen", bestätigt Helge Sodan, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Freien Universität Berlin (FU) und ehemaliger Präsident des Berliner Verfassungsgerichtshofs, in seinem Gutachten zur Causa. Dabei genügt allein ein Argument: die Kosten einer solchen Enteignung - abgesehen davon, dass der Entschädigungsaufwand auch ein Verstoß gegen die ab 2020 verbindliche grundgesetzliche "Schuldenbremse" zur Folge haben würde. Bis zu 36 Milliarden Euro sowie jährliche Folgekosten von 340 Millionen würde eine Enteignung verursachen. Die Berliner haben von Milliardengräbern und Schuldenbergen sowieso längst die Schnauze voll: "Die Stadt versagt bei sämtlichen Bautätigkeiten", mokiert sich ein Bürger auf der Demo. Das Flughafen-Desaster ist noch nicht verdaut. Für eine Enteignung können sich aktuell nur die Grünen erwärmen. CDU/CSU und FDP sind dagegen, auch die SPD zieht einen Mietendeckel einer Enteignung vor. Unter den Demonstranten gehen die Meinungen ebenso auseinander: "In meiner Straße gehört ein ganzer Häuserzug einer alten, dementen Dame. Die Jugendstilgebäude stehen leer und verkommen seit 15 Jahren. In solchen Fällen wäre eine Enteignung gerechtfertigt." Einen Imageschaden verzeichnet Berlin nicht nur bei seiner Bevölkerung. Allein die Diskussion über die Möglichkeit von Enteignungen habe dem Image des Wirtschafts- und Investitionsstandorts Berlin bereits schweren Schaden zugefügt, meint Jan Eder, Hauptgeschäftsführer der IHK Berlin. ##Totalversagen in der Politik Und wie könnte eine Strategie aussehen, die Berlin bereits seit der Wiedervereinigung fehlt? Die Kommunen sollten vermehrt auf Erbbaurecht setzen, statt ihren Boden an Dritte zu verkaufen, forderte der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Carsten Schneider. Ziel müsse es sein, Boden in öffentlicher Hand zu belassen. "Nur so können wir in Zukunft eine aktive und nachhaltige Bodenpolitik betreiben und uns vor Spekulanten und dem Druck des Marktes schützen." Betreibt man Ursachenforschung, so trägt Verschiedenes zur Mietenexplosion bei: In der 3,7-Millionen-Metropole, deren Einwohnerzahl stetig zunimmt, fehlen laut Schätzungen bis zu 300.000 Wohnungen. Nach Berechnungen des Senats werden bis 2030 mindestens 194.000 gebraucht. Nebenbei erwähnt sei, dass mit den 36 Milliarden Euro, die die Stadt für die Enteignung aufbringen müsste, der Neubau von rund 300.000 Wohnungen zu sozialen Mieten von 6,50 Euro pro Quadratmeter gefördert werden könnte. ##Strategielos im Superzyklus Und: Der akute Mangel erzeugt Druck auf die Mietpreise. Laut der Deutschen Bank befindet sich Berlin im Superzyklus und könnte bald zu einer der teuersten Metropolen Europas werden. Das Finanzinstitut erwartet, dass die Mieten und Kaufpreise noch jahrelang weiter steigen, wie die institutseigene Forschungseinrichtung Deutsche Bank Research bestätigt. Der Grund dafür sind neue Arbeitsplätze vor allem in wissensintensiven und zukunftsorientierten Sektoren. Was außer Acht gelassen wird: Der Zuzug vollzieht sich kaum über Besserverdiener aus dem Inland, sondern zum Großteil über Millenials aus dem Ausland, die in anderen deutschen Metropolen wesentlich mehr verdienen würden; nach Berlin aber lockt der Cool- und Hipster-Faktor - immer noch! Zudem ist der Immobilienmarkt in Berlin Spielwiese internationaler Investoren. Stellt man sich abends an eine x-beliebige Hotelbar in Berlin, lernt man unaufgefordert mindestens eine Handvoll Immobilieninvestoren aus so exotischen Ländern wie Indien und China kennen. ##Die Berlin-DNA Immerhin macht sich der Senat seit einem Jahr Gedanken über den Identitätsverlust der Stadt. Man ist auf der Suche nach einer neuen DNA. Denn "Be Berlin" passt nicht mehr so richtig zur Stadt, das Lebensgefühl der 90er- und Nullerjahre hat ausgedient. Daher hat man sich umgehört in der Stadt. Eine Erkenntnis, die der Senat bereits stolz präsentieren kann: "Berlin soll anders bleiben", sowie die Quintessenz der Befragung: "Berlin ist eine Voll-Katastrophe, die ich aus tiefstem Herzen liebe."
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© Cachalot Media House GmbH - Veröffentlicht am 02. Mai 2019 - zuletzt bearbeitet am 07. Oktober 2024


RK
AutorRomana Kanzian aus Berlin
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