Reifeprüfung

Wenn Sie diesen Text lesen, ist alles längst vorbei – für heuer. Aber nächstes Jahr werden wieder ein paar tausend Maturanten am Strand alle Jugend- und Partyklischees erfüllen. Und wir Erwachsenen werden den Untergang der Zivilisation heraufziehen sehen. „Ist das nicht irr?“ Dietmar Tunkel war stolz. Und strahlte. Denn rund um ihn bebte die Nacht: Zwei-, vielleicht dreitausend Teenager tanzten da. So, als gäbe es kein Morgen. Tunkel stand auf der obersten Plattform des „Partycastles“. Das Castle stand in einem All-inclusive-Ferienressort an der türkischen Riviera. Normalerweise ist es der Wasserrutschenturm des Clubs. Aber Tunkel macht es jedes Jahr für drei Wochen zum „Partycastle“ – zum Epizentrum seiner Dauerparty für Maturanten. Tunkel ist nämlich Chef von „Summersplash“. Und Summersplash ist eine der beiden großen feldzugartig organisierten Massenreisen, zu denen jedes Jahr etwa die Hälfte aller österreichischen Maturanten aufbricht. Eine Woche Bummbummbumm im All-inc-Ressort. „Ist das nicht irr?“, wiederholte der Maturantenbespaßer. Ich nickte: Ja, irr. Absolut irr. Bloß: Tunkel war stolz – ich fassungslos: Wozu, fragte ich mich, schicken wir Kinder zwölf Jahre in die Schule, versuchen, sie zu mündigen, kritischen, selbstständigen und kultivierten, denkenden, einzigartigen und verantwortlich handelnden Bürgerinnen und Bürgern zu erziehen, wenn sie, sobald man ihnen „Reife“ attestiert, das Hirn wegpacken und eine ganze Woche lang auch noch das letzte Klischee von der nur am Abfeiern interessierten Jugend bestätigen? Konsumgeil, gängelbar, oberflächlich, uniform, und, und, und ... Was haben wir – Eltern, Schule, Medien, Gesellschaft – bloß falsch gemacht? „Gar nichts!“, brüllte eine Stimme neben mir. Die Stimme gehörte Peter L. Eppinger. Der Ö3-DJ ist Summersplash-Inventar: Als DJ und Moderator stimmt er die Kids auf Party ein. Jeden Abend. Seit Jahren. Meine Miene, brüllte Eppinger, sei eindeutig gewesen: „Daheim, in Wien, behaupten alle meine Freude und Kollegen, dass das furchtbar ist. Und ich kann nix dagegen sagen. Ich kann es mir daheim ja selbst nicht erklären. Aber hier, am Strand, passt es: Für die Kids ist es der Übergang in eine neue Lebensphase. Das müssen wir nicht verstehen können. Auch wenn es weh tut: Wir sind die Alten.“ Eppinger war noch nicht fertig: „Klar: Was hier passiert ist hirnlos. Das Gegenteil von reif. Aber Fakt ist: Jugendliche feiern. Ob es uns gefällt oder nicht. Und ich glaube: Besser, sie tun das in einem abgeschirmten Club als an Stränden, an denen Horden älterer Männer auf der Suche nach Frischfleisch herumziehen.“ Eppingers Stimme wurde rau: Zu laut. Zu hektisch. Wir gingen. Die Kids machten weiter. In meinem Hotelzimmer fiel mir meine ehemalige Englischlehrerin ein: „Ihr seid also die Ärzte und Architekten von morgen?“, hatte sie täglich gebrüllt und dann die Hände gerungen: „Um Himmels Willen!“ Ich bin jetzt fast so alt, wie sie damals war. Viele meiner Klassenkollegen sind heute Ärzte. Architekten. Ingenieure. Eine hat ein Medikament entwickelt, das tausende Leben gerettet hat. Einer entwirft Flugzeuge: Ich vertraue diesen Menschen. Blind. Aber mit 18 waren wir keiner von uns auch nur einen Millimeter anders oder reifer als die Kids am Strand. Und das war gut und richtig so – auch wenn wir es heute nicht mehr wahrhaben wollen. «